«Mit der Beute wurde das Musikleben im NS-Staat ausgebaut»: Die Nationalsozialisten betrieben einen systematischen Instrumentenraub

Anders als in der Kunst steht die Provenienzforschung bei entwendeten oder verfolgungsbedingt entzogenen Musikinstrumenten noch ganz am Anfang. Dabei geht es um mindestens hunderttausend Fälle.

Marcus Stäbler 7 min
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Der «Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg» bei einem Raubzug im besetzten Paris, 1942. In dessen Windschatten sammelte der «Sonderstab Musik» wertvolle Instrumente ein und liess sie ins Reich bringen. Viele dürften noch heute in Deutschland sein.

Der «Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg» bei einem Raubzug im besetzten Paris, 1942. In dessen Windschatten sammelte der «Sonderstab Musik» wertvolle Instrumente ein und liess sie ins Reich bringen. Viele dürften noch heute in Deutschland sein.

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In seinem Jahrhundertroman «Das Schweigen des Sammlers» verfolgt der katalanische Autor Jaume Cabré die Geschichte einer kostbaren Geige. Einer Storioni mit blutiger Vergangenheit, die aus dem Besitz holländischer Juden in die Hände eines SS-Mannes gerät und schliesslich im Tresor eines Antiquitätenhändlers landet. Die verschlungene Erzählung über das Böse, über Schuld und Vergessen und das Verhältnis von Kunst und Verbrechen ist Fiktion – und trotzdem sehr nah an der Realität. Denn sie hätte sich exakt so zutragen können.

Der Raub von Instrumenten und anderen Musikalien gehörte während der NS-Zeit zum Alltag. Unter dem Dach des 1940 aufgestellten Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg – der zentralen NS-Agentur für Kulturgüterraub – entstand damals auch ein «Sonderstab Musik». Zu dessen Hauptaufgaben gehörten grossflächige Plünderungen in den von Deutschland okkupierten Gebieten, etwa in Frankreich. Dabei wurden Instrumente, Partituren und andere Musikalien erbeutet.

Diese systematischen Raubzüge wurden spätestens 1998 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, als das Buch «Sonderstab Musik» von Willem de Vries erschien. Die Untersuchung weist zwar eine Reihe von wissenschaftlichen Fehlern auf, lenkt aber den Blick auf einen bis dato kaum beachteten Aspekt der deutschen Kriegsverbrechen. Daraus ergeben sich Folgefragen nach der Provenienz von Musikinstrumenten. Für die hat sich allerdings lange Zeit kaum jemand interessiert.

Mit deutscher Gründlichkeit

«Als ich gesagt habe, dass ich gern die Menschen treffen würde, die über geraubte Instrumente forschen, hiess es: Da gibt es niemanden», erinnert sich Pascale Bernheim. Die französische Musikagentin und Kulturmanagerin ist durch das Buch «The Lost Museum» von Héctor Feliciano auf das Thema Kunstraub während der NS-Zeit gestossen. Nach der Lektüre sei in ihr der Wunsch entstanden, etwas dazu beizutragen, geraubte Kulturgüter wiederzufinden.

Deshalb hat Bernheim 2017 «Musique et Spoliations» gegründet, die erste und international führende Organisation, die sich der Suche nach geraubten Instrumenten verschrieben hat. Derzeit umfasst sie sechs Mitarbeiter, allesamt ehrenamtlich tätige Autodidakten. Auf sie wartet ein Berg an Aufgaben. Denn der vom NS-Staat eingerichtete «Sonderstab Musik» ist bei seinen Plünderungen mit der sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit vorgegangen. «Allein in Paris und seinen Vororten wurden 40 000 Wohnungen vollständig geleert – und aus diesen Wohnungen wurden 8000 Klaviere entwendet», erläutert Bernheim. Unter den Beraubten waren auch prominente Musikerinnen und Musiker wie die Cembalistin Wanda Landowska, deren Sammlung an Tasteninstrumenten ebenso beschlagnahmt wurde wie das Eigentum des Komponisten Darius Milhaud.

Dass die systematischen Plünderungen – weit über die umständlich zu transportierenden Klaviere hinaus – ein gewaltiges Volumen gehabt haben, steht ausser Frage. Allerdings sei es schwer, dieses genau zu beziffern, wie der Musikwissenschafter Michael Custodis von der Universität Münster betont. «Aus den bisher vorliegenden Quellen wissen wir, dass man von einer Grössenordnung von mindestens hunderttausend geraubten Instrumenten ausgehen muss. Aber die Archivlage kann sich jederzeit noch erweitern. Wie wir aus den Recherchen von ‹Musique et Spoliations› in Paris wissen, gibt es eine riesige Dunkelziffer. Das, was wir konkret benennen können, ist nur ein Bruchteil.»

Bei den meisten Instrumenten handele es sich um solche für den Alltagsgebrauch. «Mit der Beute wurde das Musikleben im NS-Staat ausgebaut», so Custodis. «Bestimmte Gruppen wie die Hitlerjugend, örtliche Orchester, Musikschulen oder Militärkapellen konnten ihren Bedarf anmelden und Instrumente für den eigenen Gebrauch bestellen. Das wurde in grossen Stückzahlen professionell logistisch abgewickelt.»

So gelangten Zigtausende Instrumente nach Deutschland, kostbare und weniger kostbare – und gerieten lange in Vergessenheit. Auch bei den beraubten Menschen selbst, wie Pascale Bernheim erklärt. «Für die Überlebenden nach dem Krieg hatte die Suche nach den Instrumenten in der Regel keine Priorität. Sie hatten meist ganz andere Sorgen.» Diese Suche heute, mehr als achtzig Jahre danach, wieder aufzunehmen und die Instrumente idealerweise ihren ursprünglichen Besitzerinnen und Besitzern oder deren Erben zuzuführen, sei eine Sisyphusarbeit, bekennt Bernheim. «Jedes Teil dieser Geschichte ist Teil eines gigantischen Puzzles. Aber bevor wir damit anfangen, müssen wir die Puzzleteile überhaupt erst mal finden.»

Eins dieser Puzzleteile ist die sogenannte Lauterbach-Stradivari, welche 1944 aus dem Warschauer Museum geraubt wurde und lange als verschollen galt. «Ich nehme an, dass das Instrument viele Jahre lang unerkannt ein Leben als ‹normale› Geige geführt hat», vermutet Bernheim. «Weil das Zertifikat im Warschauer Museum verblieben ist.» Nachdem sich der mutmassliche heutige Besitzer an «Musique et Spoliations» gewandt hat, mit der Bitte, die Provenienz der Geige zu prüfen, verdichten sich Hinweise, dass es sich bei dem Instrument um die vermisste Lauterbach-Stradivari handeln könnte. Die Untersuchungen laufen noch – und werfen komplexe Fragen danach auf, wem die Geige rechtmässig gehört. Deren Wert wird immerhin auf fast zehn Millionen Franken geschätzt.

Die polnisch-französische Cembalistin und Komponistin Wanda Landowska (1879–1959) spielte im Jahr 1907 für Leo Tolstoi. Sie gehörte zu den Pionierinnen der Alte-Musik-Bewegung. Im September 1940 beschlagnahmte der «Sonderstab Musik» ihre Instrumentensammlung und verbrachte sie in über fünfzig Kisten nach Berlin. Landowska gelang die Flucht in die USA.

Die polnisch-französische Cembalistin und Komponistin Wanda Landowska (1879–1959) spielte im Jahr 1907 für Leo Tolstoi. Sie gehörte zu den Pionierinnen der Alte-Musik-Bewegung. Im September 1940 beschlagnahmte der «Sonderstab Musik» ihre Instrumentensammlung und verbrachte sie in über fünfzig Kisten nach Berlin. Landowska gelang die Flucht in die USA.

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Eine Spur führt in die Schweiz

Dass die geraubten Instrumente auf viele Länder verstreut sind, macht die Suche nicht einfacher. Aber nach und nach gelingt es Pascale Bernheim und ihrem Team, ihre Initiative auszuweiten und sich international zu vernetzen. Auch nach Deutschland, dem Ausgangspunkt des Instrumentenraubs, wo sich im Arbeitskreis Provenienzforschung eine AG Musik gegründet hat. Eine der Mitinitiatorinnen ist Elisabeth Furtwängler, die als Provenienzforscherin im Bereich Kunst und als Enkelin des legendären Dirigenten Wilhelm Furtwängler gleich doppelt am Thema interessiert ist. Als einen der ersten Schritte möchte sie mit der AG Musik einen Blick auf die deutschen Instrumentensammlungen werfen, «um zu wissen, wo man gezielt mit Bestandsprüfungen beginnen könnte».

Eine Spur des Raubguts führt auch in die Schweiz, die gerade bei kostbaren Meisterinstrumenten als Umschlagplatz fungiert hat. Mit diesem Teil der Geschichte hat sich eine Tagung im April 2022 beschäftigt; sie wurde von der Geigenschule Brienz in Zusammenarbeit mit der Hochschule der Künste Bern und dem Institut für Musikwissenschaft der Universität Bern ausgerichtet. «Das Symposium hat nochmals deutlicher gezeigt, wie man aus dem Raub ein Geschäft macht», erinnert sich Michael Custodis. «Es gab während und nach dem Krieg einen regen Handel in der Schweiz, mit den geraubten Instrumenten, aber auch mit den Etiketten, die ihnen eingeklebt wurden.» Damit wurde ihre wahre Herkunft vertuscht beziehungsweise der Preis in die Höhe getrieben.

Heute wäre es kaum noch möglich, die Provenienz zu verschleiern, weil sich der Weg gerade der besonders wertvollen Instrumente durch die Digitalisierung viel besser verfolgen lässt. Und weil sich auch das Alter und die Eigenheiten des Materials mit anderen technischen Hilfsmitteln bestimmen lassen als früher. Der illegale Verkauf ist deshalb viel schwieriger geworden.

Gleichwohl sind heute vielerorts Instrumente ausgestellt oder in Gebrauch, bei denen die Herkunft oder die Umstände und Hintergründe des Erwerbs nicht oder nur teilweise geklärt sind und noch weiter erforscht werden müssen. Etwa im Kunsthistorischen Museum in Wien, beim Berliner Musikinstrumenten-Museum oder beim Deutschen Musikinstrumentenfonds, einer verdienstvollen Organisation, die – als Herzstück der Deutschen Stiftung Musikleben – kostbare Instrumente an herausragende Streicherinnen und Streicher der jungen Generation verleiht.

Von den 260 Instrumenten, die der Fonds zeitweise vergibt, stammen einige aus dem Besitz des Bundes. Und sechs dieser Instrumente – darauf hat der Kunsthistoriker Joseph Pearson 2022 in einem Essay für die Zeitschrift «Lettre International» hingewiesen – hat die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches übernommen. Sie stammen aus dem ehemaligen Reichspropagandaministerium.

Ein Orchester der NS-Organisation «Bund Deutscher Mädel». Sehr wahrscheinlich profitierte auch der «BDM» vom Instrumentenraub in den von Deutschland besetzten Gebieten.

Ein Orchester der NS-Organisation «Bund Deutscher Mädel». Sehr wahrscheinlich profitierte auch der «BDM» vom Instrumentenraub in den von Deutschland besetzten Gebieten.

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Moralisch kontaminiert

Ihre Provenienz sei nicht ganz klar, sagt Martin Eifler, Referatsleiter Musik bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. «Wir wissen in einigen Fällen, von welchem Geigenbauer sie angekauft worden sind. Aber wir wissen nicht, woher diese Geigenbauer die Instrumente damals bezogen haben.» Da die Instrumente während der 1940er Jahre zum Reichspropagandaministerium gekommen sind, liegt der Verdacht nahe, dass die Geigenbauer geraubte oder auch unter Druck veräusserte Instrumente angekauft haben könnten.

Um diesen Verdacht möglichst auszuräumen, oder aber, wenn er berechtigt sein sollte, die ursprünglichen Besitzer zu ermitteln, recherchieren Eifler und seine Abteilung weiter. Dass sie externen Forschern den Zugang zu ihrem Archivmaterial nicht eben erleichtern, hinterlässt allerdings ein paar Fragezeichen. Ebenso wie der Umgang mit dem Wissen über die moralisch kontaminierten Instrumente. Müssten die jungen Leihnehmer nicht über deren Geschichte informiert werden?

Eifler reagiert zurückhaltend: Es helfe den jungen Künstlern nicht, wenn die ihnen überlassenen Instrumente Spekulationen ausgesetzt seien. Das hindere sie womöglich sogar daran, sich über die Leihgabe der hochwertigen Instrumente zu freuen. «Auf der anderen Seite kann man dem politischen Verständnis junger Menschen vertrauen», meint Eifler. «Es wäre eine Möglichkeit, das Thema auch in der künstlerischen Auseinandersetzung aufzunehmen – etwa indem man Musik von verfemten Komponistinnen und Komponisten auf diesen Instrumenten spielt. Ich plädiere hier für Transparenz, aber auch für einen sensiblen Umgang, der die Verantwortung nicht an die jungen Künstlerinnen und Künstler delegiert.»

Ist das ein angemessener Umgang? Die belastete Vergangenheit der Instrumente von den jungen Leihnehmern möglichst weit weg zu halten, um ihnen eine Begegnung mit dem Thema zu ersparen? Michael Custodis hat dazu eine klare Meinung: «Das kann nicht die Lösung sein. Man sollte diese Instrumente im Bewusstsein ihrer schwierigen Geschichte spielen. Sie tragen schliesslich die Erinnerungen an die Opfer des NS-Regimes in sich.»

Die Auseinandersetzung mit solchen Themen steht, was Instrumente angeht, noch weit am Anfang. Umso wichtiger ist, dass die diesbezügliche Provenienzforschung in Angriff genommen wird und auf steigendes Interesse stösst. Auch in der Schweiz. Das Historische Museum Basel veranstaltet etwa im kommenden Oktober eine Tagung, die sowohl Fachleute verschiedener Disziplinen wie auch Erbinnen und Erben ansprechen will.

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