«Ich habe Glück, dass ich mich nicht erinnere», sagt Peter Iczkovits, der als Kind im Konzentrationslager war – und nun in Zürich wieder Antisemitismus erlebt

Der Zürcher Peter Iczkovits gehört zu den letzten Zeugen des Holocaust, zu jenen, die damals Kleinkinder waren.

Katrin Schregenberger 5 min
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Der 81 Jahre alte Peter Iczkovits in seinem Chevrolet von 1926 in Zürich.

Der 81 Jahre alte Peter Iczkovits in seinem Chevrolet von 1926 in Zürich.

Katrin Schregenberger

Peter Iczkovits, einer der letzten Zeugen des Holocaust, sitzt an seinem Schreibtisch in Zürich Wiedikon, wo nicht weit entfernt erst kürzlich ein Islamist auf einen Juden einstach, und sagt: «Als ich von dem Angriff hörte, dachte ich: Das gibt’s doch nicht.» Im Hintergrund hören wir seinen Sohn auf Deutsch, Hebräisch, Englisch telefonieren, denn wir sitzen hier in der Firma für Autohandel, die Iczkovits sein Leben lang führte. Er fährt fort: «Der Angegriffene war ein Freund von mir.»

Spätestens seit dem Vorfall in Zürich Anfang März blicken Jüdinnen und Juden besorgt auf den zunehmenden Antisemitismus. Besonders gefährdet sind Orthodoxe wie Peter Iczkovits. Zwar trägt er keinen langen Bart und auch keinen auffälligen Hut. Ohne Kippa jedoch sieht man ihn nie. Judenverachtung hat er schon im Kindesalter erfahren.

80 Jahre ist es her, seit die Nationalsozialisten in seinem Geburtsland Ungarn einmarschierten und die Judenvernichtung in Gang setzten. 80 Jahre ist es her, seit die Firma für Autohandel, die sein Urgrossvater gegründet hatte, gewaltsam aufgelöst wurde. Sein Vater musste in Zwangsarbeit, der Sohn Peter gelangte zweijährig mit Mutter und Schwester ins Konzentrationslager Bergen-Belsen.

Den Geschehnissen seiner ersten Lebensjahre ist der heute 81-Jährige nun zusammen mit der Verfasserin dieser Zeilen in einem Buch nachgegangen. Seine und viele weitere Geschichten von Kindern im Holocaust kommen erst jetzt ans Licht, denn lange interessierte sich die Welt nicht für das Schicksal jener, die sich kaum erinnern konnten.

Peter Iczkovits als kleiner Bub mit seinem Vater Alfred im Sanatorium La Riondaz in Leysin, um 1946.

Peter Iczkovits als kleiner Bub mit seinem Vater Alfred im Sanatorium La Riondaz in Leysin, um 1946.

Peter Iczkovits

1,5 Millionen tote jüdische Minderjährige

Erst in den 1990er Jahren begann die Aufarbeitung der Kinderschicksale. Dabei waren jüdische Kinder besonders von der Vernichtung betroffen, denn wer nicht arbeiten konnte, war für die Nationalsozialisten wertlos. 1,5 Millionen jüdische Minderjährige kamen im Holocaust um. In den Konzentrationslagern fanden sich entsprechend wenig Kinder: In Auschwitz waren es nur 5,5 Prozent.

Eine Ausnahme war Bergen-Belsen, das Peter Iczkovits überlebte. Dieses KZ war ein Sonderfall. Es war nicht darauf ausgerichtet, die Inhaftierten zu töten, sondern sie in «austauschfähigem Zustand» zu erhalten. Es handelte sich zum Beispiel um ausländische jüdische Geiseln, die die Nationalsozialisten mit den Alliierten gegen deutsche internierte Zivilisten austauschen wollten.

Diese Insassen bekamen anfangs mehr zu essen, durften Zivilkleidung tragen und bei ihren Familien bleiben. Die Umstände blieben aber desolat – in Bergen-Belsen führten die Überbelegung und die Gleichgültigkeit der SS-Soldaten zuletzt zu einer grauenhaften, tödlichen Verwahrlosung.

Bis Mitte 1944, als Peter Iczkovits in das Lager verfrachtet wurde, waren die Umstände in Bergen-Belsen jedoch besser als anderswo. Der Anteil von Minderjährigen lag in Bergen-Belsen bei rund 18 Prozent, 3500 Kinder verschleppte die SS hierhin.

Dass er das Konzentrationslager zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester wieder verlassen konnte, war dem damals geheimen «Kasztner-Transport» zu verdanken.

Dabei handelte es sich um eine umstrittene Aktion, bei der rund 1700 Jüdinnen und Juden aus Ungarn gerettet wurden. Der ungarisch-jüdische Journalist Rudolf Kasztner verhandelte hierfür direkt mit den Nationalsozialisten und kaufte Jüdinnen und Juden frei. Dieser Handel geriet später in die Kritik.

Die Geretteten aber landeten in der Schweiz. Dies, da Rudolf Kasztner Beziehungen in die Schweiz hatte und das Land wegen seiner Neutralität als Ausreiseland auch für die Nazis akzeptabel war.

Familie Iczkovits begann so ein neues Leben in Zürich.

An all diese dramatischen Ereignisse erinnert sich Peter Iczkovits nicht. Das Erste, woran er sich erinnern kann, ist, wie er in einem Schweizer Tuberkulose-Sanatorium aufwachte – und seine Eltern nicht mehr erkannte.

Die Kasztner-Gruppe in ihrem Quartier in der Kreuzbleiche-Turnhalle in St. Gallen, Dezember 1944.

Die Kasztner-Gruppe in ihrem Quartier in der Kreuzbleiche-Turnhalle in St. Gallen, Dezember 1944.

Ringier-Archiv

Eltern nicht mehr erkannt

Auch dies ist typisch: Das Schweizerische Hilfswerk für Emigrantenkinder (SHEK), das sich um die Flüchtlingskinder in der Schweiz kümmerte, bemerkte immer wieder Kinder, die ihre Eltern nicht mehr erkannten oder nicht als solche anerkennen wollten. Zudem waren sie häufig verhaltensauffällig. Nettie Sutro, die Leiterin des Hilfswerks, schreibt 1952: «Die Beziehung zu der Generation vor ihnen war im besten Fall erschüttert, wenn nicht zerstört.»

In der Kriegszeit betreute das SHEK fast 5000 zumeist jüdische Flüchtlingskinder. Fast immer wurden die Kinder von den Eltern getrennt – und voneinander ferngehalten: Höchstens vier Mal pro Jahr konnten sich Kinder und Eltern für je drei Tage treffen.

Kleinkinder blieben eigentlich bei der Mutter, im Fall von Peter Iczkovits war dies aber nicht so, da sich auf seiner Lunge ein Tuberkulose-Schatten abzeichnete. Er verbrachte über ein Jahr in dem Sanatorium in Leysin in der Waadt und verlernte dabei seine Muttersprache Ungarisch.

Peter Iczkovits kommt im Alter von zwei Jahren in das Konzentrationslager von Bergen-Belsen.

Peter Iczkovits kommt im Alter von zwei Jahren in das Konzentrationslager von Bergen-Belsen.

Peter Iczkovits

Als Peter Iczkovits mit fünf Jahren zu seiner orthodoxen Familie zurückkehrt, fühlt er sich entfremdet. Die Beziehung zu seinem Vater ist geprägt von Konflikten. Vielleicht auch, weil der Vater andere Sorgen hat: Über Jahre kämpft er gegen Zürcher Beamte und Bundesbehörden, die die jüdische Familie so schnell wie möglich wieder aus dem Land haben möchten. Systematisch drängte die Schweiz jüdische Flüchtlinge nach dem Krieg dazu, in andere Länder auszuwandern.

Über Jahre baut sich der Vater sein Geschäft im Autohandel, das in Ungarn so floriert hat, in Zürich wieder auf. Doch er bleibt ein Fremder. «Mein Vater konnte sich in der Schweiz irgendwie nicht richtig einleben. Er hatte genug von der Schweiz mit dieser Zürcher Fremdenpolizei.» Peter Iczkovits, der Sohn, steht in einem anderen Verhältnis zur Schweiz: «Bei mir ist das anders. Ich bin ja hier aufgewachsen. Ich rede das richtige Schweizerdeutsch. Ich bin ein Schweizer Jude.»

Rückkehr nach Bergen-Belsen

Sein Leben verbringt der strenggläubige Peter Iczkovits in Zürich, gründet eine Grossfamilie mit zehn Kindern, übernimmt die Firma für Autohandel, die sein Vater aufgebaut hat. Hier sitzt er jetzt, 81-jährig, im Bürostuhl und versucht, sich zu erinnern.

Denn mit der Pensionierung wurden seine Fragezeichen immer grösser. Was passierte eigentlich damals, als er zweijährig in ein KZ verfrachtet wurde? Er ging der Frage nach, meldete sich bei der Gedenkstätte Bergen-Belsen, reiste mit seiner Frau dorthin, in der Hoffnung, doch noch einen Funken Erinnerung zu finden. «Viele ehemalige Häftlinge finden den Weg hierher erst im Rentenalter», sagt Bernd Horstmann, Forscher der Gedenkstätte, im Gespräch. «Heute kommen nur noch ‹child survivors› – Menschen, die als Kinder den Holocaust überlebten.»

Peter Iczkovits blickt über den Brillenrand und rückt seine Kippa zurecht. «Ich habe Glück, dass ich mich nicht erinnern kann», sagt er. Die Arbeit am Buch habe ihm die Augen geöffnet dafür, wie stark ihn seine ersten Lebensjahre geprägt hätten. Der Holocaust ist nun rund 80 Jahre her, und er ist einer der letzten Zeitzeugen. Er hofft, dass es keine neuen geben wird.

Katrin Schregenberger ist Historikerin und Autorin des soeben im Zytglogge-Verlag erschienenen Sachbuchs «Rettung vom Totenwagen: Als Zweijähriger aus dem KZ Bergen-Belsen in die Schweiz».

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