Die Erinnerung, die immer schmerzen wird: Das Jewish Chamber Orchestra Munich will die im Holocaust zerstörte jüdische Musikkultur zum Leben erwecken

Unter der Leitung von Daniel Grossmann geht das Ensemble originelle Wege, um das Gedenken an verfolgte und vergessene Komponisten zu pflegen. Auch sein jüngstes Projekt rund um Bachs «Goldberg-Variationen» hat eine besondere historische Note.

Corina Kolbe 5 min
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Daniel Grossmann ist Gründer und Leiter des Jewish Chamber Orchestra Munich.

Daniel Grossmann ist Gründer und Leiter des Jewish Chamber Orchestra Munich.

Robert Brembeck / JCOM

Plötzlich greift sich der Klarinettist an den Hals, schnappt nach Luft und wankt von der Bühne, bevor er zusammenbricht. Ein perfider Giftanschlag überschattet ein Gedenkkonzert, das ein jüdisches Orchester im KKL Luzern für die Opfer des Holocausts spielt. Und ein reicher Mäzen, der sich eben noch als Judenretter feiern liess, sieht sich mit einem düsteren Kapitel seiner Vergangenheit konfrontiert.

Durch die «Tatort»-Folge «Die Musik stirbt zuletzt» wurde das Jewish Chamber Orchestra Munich Millionen Fernsehzuschauern im deutschsprachigen Raum bekannt. In dem spektakulären Krimi, der 2018 in einer einzigen Einstellung ohne Schnitt gedreht wurde, spielt das Jewish Chamber Orchestra unter anderem Werke von Komponisten wie Erwin Schulhoff und Viktor Ullmann, die während des Zweiten Weltkriegs von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden.

Die Zuhörer zur persönlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte zu bewegen – das ist von Beginn an ein zentrales Anliegen des 2005 gegründeten Kammerorchesters, das auch unter dem Kürzel JCOM bekannt ist. Bis vor sechs Jahren trat es unter dem Namen «Orchester Jakobsplatz München» auf – an diesem Platz in der Altstadt wurden Anfang dieses Jahrhunderts ein Jüdisches Museum, eine Synagoge und ein Gemeindehaus errichtet. Die Besetzung des Orchesters ist international, längst nicht alle Mitglieder sind jüdischen Glaubens. Sie alle eint aber der Wunsch, jüdisches Leben in all seinen Facetten erfahrbar zu machen und auch möglicherweise vorhandene Berührungsängste abzubauen.

Herausforderung des Erinnerns

In seinem jüngsten Grossprojekt «Kofflers Schicksal», mit dem das JCOM seit 2023 durch Deutschland tourt, erinnert man an den Komponisten Józef Koffler, der in Vergessenheit geriet, obwohl viele seiner Werke überlebt haben. Koffler wurde 1944 im Osten Polens von der Gestapo aufgegriffen und zusammen mit seiner Familie ermordet. Koffler hatte am Konservatorium von Lemberg, dem heute ukrainischen Lwiw, den einzigen Lehrstuhl für atonale Komposition im Land inne und gehörte als Anhänger Arnold Schönbergs zu den Pionieren der Neuen Musik. Einer seiner Schüler war Roman Haubenstock-Ramati, dessen Kafka-Oper «Amerika» kürzlich am Opernhaus Zürich aus der Versenkung geholt wurde.

Kofflers 1928 entstandenes Streichtrio op. 10, das vom JCOM in einer neuen Bearbeitung für Kammerorchester gespielt wird, ist für ein Zwölftonstück sehr eingängig und nimmt nicht zuletzt durch seinen Melodienreichtum für sich ein. Ohne Pause geht das Orchester unter Leitung seines Gründers Daniel Grossmann dann zu einer Auswahl aus Bachs «Goldberg-Variationen» über. Koffler hat den für Cembalo geschriebenen Zyklus während der 1930er Jahre orchestriert. Angesichts der von Nazi-Deutschland ausgehenden Bedrohung und der stalinistischen «Säuberungen» in der Sowjetunion hörte er damals auf zu komponieren. Indem er fremde Werke bearbeitete, konnte er sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen, ohne die Musik vollends aufzugeben.

Während der Aufführung im Rahmen von «Kofflers Schicksal» bricht das Spiel des Orchesters immer wieder ab. In die Stille hinein rezitiert die Schauspielerin Jelena Kuljić Textfragmente von Stella Leder, einer Enkelin des Schriftstellers Stephan Hermlin, die wie schmerzhafte Zäsuren wirken. «Etwas ist passiert zwischen Ihnen und mir, lange, bevor wir uns kannten», ruft Kuljić Richtung Publikum. «Vielleicht waren Sie sogar noch Kinder, und ich war noch nicht einmal auf der Welt. Niemand erwartet, Juden oder Nachkommen von Überlebenden zu begegnen.»

Die Texte handeln vom Schicksal des Komponisten, auch von der Ermordung seiner Frau und seines kleinen Sohnes. Heutige Generationen werden zugleich mit der Herausforderung des Erinnerns an eine Vergangenheit konfrontiert, die immer wieder verdrängt worden ist: «Meine Existenz rührt an eine alte, verborgene Wunde. Ich kann Ihnen nicht sagen, dass ich keine Schuld habe an Ihrer Verletzung.»

Stella Leder habe einen unbequemen Text schreiben wollen, der aufrütteln soll, erläutert Daniel Grossmann im Gespräch. Seine Familie stammt aus Ungarn, viele Verwandte aus der Generation seiner Grosseltern starben in Auschwitz. «Meine Eltern wurden nach dem Krieg geboren, auch in jüdischen Familien hat man lange Zeit nicht über das Geschehene sprechen können», sagt Grossmann.

Das öffentliche Gedenken an die Opfer des Holocausts in Deutschland und die Anerkennung der Schuld ist Grossmann sehr wichtig. «Diese Institutionalisierung führt aber auch dazu, dass die individuelle Auseinandersetzung eher in den Hintergrund rückt. Dabei sollte doch jeder darüber nachdenken, was ihm dieses Erinnern heute bedeutet. Auch wenn er selbst keine direkte Schuld trägt und die Urgrosseltern oder Grosseltern, die die damalige Zeit miterlebt haben, längst verstorben sind.»

Nach der Premiere an den Münchner Kammerspielen war «Kofflers Schicksal» unter anderem im Festspielhaus Hellerau in Dresden zu erleben. Auch das dortige Europäische Zentrum der Künste setzt sich in seinen Programmen differenziert mit dem schwierigen historischen Erbe auseinander – nicht zuletzt mit dem eigenen. Intendantin in Hellerau ist seit 2018 die gebürtige Leipzigerin Carena Schlewitt, die zuvor zehn Jahre lang das Kulturzentrum Kaserne Basel leitete. Das 1911 erbaute Festspielhaus war zunächst ein Laboratorium der Avantgarde. Dort wirkte der Schweizer Musikpädagoge Émile Jaques-Dalcroze, einer der Väter des modernen Ausdruckstanzes. Doch es gibt auch eine Schattenseite: Unter den Nazis wurde das Haus zur Ausbildungsstätte eines SS-Polizeibataillons, das – wie die Mörder Kofflers – in Hitlers Vernichtungskrieg eingebunden war.

Kunst statt Schlagabtausch

Grossmann und seine Musiker wollen freilich nicht nur das Gedenken an verfolgte und vergessene Komponisten wachhalten, sondern auch lebendige Traditionen fortführen. Ein Publikumsmagnet ist etwa das Konzert zur Feier des Jüdischen Neujahrsfestes, das jeden Herbst im Münchner Prinzregententheater stattfindet. Zum breiten künstlerischen Spektrum des Orchesters gehören ausserdem jüdische Comedy und Jazz, ebenso Filmmusik. Bei der Berlinale 2018 führte das JCOM erstmals Philippe Schoellers neu komponierte Musik zu dem Film «Das alte Gesetz» von 1923 auf. Unter dem Titel «Die Juden in den Alpen» wird Ende April in München Paul Hindemiths Musik zu Arnold Fancks Stummfilm «Im Kampf mit dem Berge» gespielt, der von der Besteigung des Liskamms in den Walliser Alpen handelt.

Auf die Frage, inwieweit die aufgeheizten Diskussionen unserer Gegenwart Einfluss auf seine Arbeit haben, äussert sich Grossmann sehr dezidiert: An den polarisierenden Antisemitismusdebatten, die durch das Erstarken des Rechtspopulismus und den Krieg im Nahen Osten befeuert werden, will er sich nicht beteiligen. «Warum sollte ich in dieses Geschrei einstimmen? Ich möchte keine Schwarz-Weiss-Debatten führen», unterstreicht er. «Natürlich ist Kunst auch politisch. So wie ich Kunst verstehe, ist sie aber kein Ort für einen pauschalen Schlagabtausch.»

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