Statt immer nur über Ärzte und Pharmabranche zu klagen: Sind wir etwa selber schuld an der Kostenspirale?

Es sei kompliziert, sagen die Experten über die steigenden Krankenkassenprämien, die zur Hauptsorge der Schweizer Bevölkerung geworden sind. Doch manchmal hilft die Vereinfachung, um etwas zu verstehen: Am Anfang der Spirale steht unsere wachsende Anspruchshaltung – eine Eskalation in sechs Kapiteln.

Alain Zucker und Andrea Kučera 9 min
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Früher ging es darum, bei einem Patienten eine Krankheit zu diagnostizieren, heute kommen viele zum Arzt, weil sie den Beweis dafür wollen, gesund zu sein. Die Kosten der Untersuchung sind dieselben.

Früher ging es darum, bei einem Patienten eine Krankheit zu diagnostizieren, heute kommen viele zum Arzt, weil sie den Beweis dafür wollen, gesund zu sein. Die Kosten der Untersuchung sind dieselben.

Aja Koska / Getty

1. Ich will auch: Die Patienten

So nebulös, wie die Rückenschmerzen begannen, so nebulös sind sie geblieben: Doch dazwischen liegen vier Jahre, Besuche bei fünf Rheumatologen, vier MRI-Untersuchungen und mehrere Behandlungen mit Medikamenten, die ins Immunsystem eingreifen und zwischen 12 000 und 17 000 Franken pro Jahr kosten. Die 22-jährige Frau glaubt bis heute nicht, dass ihre unspezifischen Rückenschmerzen keine klinische Ursache haben, sie mit einfachen Kräftigungsübungen am besten bedient ist und auch lernen muss, mit gelegentlichen Rückenbeschwerden zu leben.

«Doc-Hopping» heisst dieses Phänomen, von dem ein Rheumatologe erzählt, und es ist typisch für eine Entwicklung, die schon länger anhält und die Kostenspirale im Gesundheitswesen mitverursacht: Schweizer und Schweizerinnen konsumieren immer mehr medizinische Leistungen, und zwar nicht nur, weil sie älter werden. Die Zahl der Patienten und Patientinnen stieg 2022 doppelt so stark wie in den Jahren davor, während die Kosten pro Patient stabil waren. Auch im vergangenen Jahr hat die Zahl überdurchschnittlich zugenommen.

Immer häufiger zum Arzt

Anteil Personen mit mindestens einer Konsultation bei Allgemeinmedizinern oder Spezialisten (in Prozent)
Frauen (Allgemeinmedizin)
Männer (Allgemeinmedizin)
Frauen (Spezialist)
Männer (Spezialist)

2022 gingen die Schweizerinnen und Schweizer pro Kopf gerechnet durchschnittlich 4,5 Mal zum Arzt, über 30 Prozent taten dies mehr als fünf Mal. Und die Jüngeren holen auf: In der Altersgruppe zwischen 25 und 34 Jahren ist der Praxisbesuch fast so häufig wie bei den 45- bis 64-Jährigen. «Der gesunde Teil der Bevölkerung ist ängstlicher geworden als früher», sagt Yvonne Gilli, Präsidentin des Ärzteverbandes FMH. Das beginnt in den Notfallstationen der Kinderspitäler, die überfüllt sind, weil die Eltern mit ihren Kindern vorbeikommen, nur weil diese etwas Temperatur und rote Backen haben. Und es setzt sich fort bei zunehmend jüngeren Leuten, die beim kleinsten Weh die Ärztin anrufen.

Diese Verhaltensänderung ist Urs Stoffel, Chirurg und Mitglied des Zentralvorstands der FMH, schon vor Corona aufgefallen: «Früher ging es darum, einem Patienten eine Krankheit nachzuweisen, heute kommen auch vorab jüngere Menschen in die Praxis, weil sie den Beweis dafür wollen, gesund zu sein. Ob ich allerdings ein 24-Stunden-EKG mache, um Herzrhythmusstörungen zu beweisen oder um sie auszuschliessen: Es kommt gleich teuer.»

2. Auch Ärzte sind nur Menschen: Fehlanreize

Eine neue Anspruchshaltung hat sich breitgemacht, und sie treibt seltsame Blüten. Neben der Ängstlichkeit grassiert der Machbarkeitswahn, wenn sich etwa ein Patient nach der hochkomplexen Operation seines Bauchspeicheldrüsenkrebses darüber beklagt, dass er nach fünf Tagen nicht schon wieder voll im Saft ist.

«Wir sind auch nur Menschen», sagt die Ärztin eines grossen Spitals. Und sie meint damit: Klar reagieren die Ärzte auch auf Anreize, und die liegen derzeit nun einmal darin, dieser wachsenden Anspruchshaltung der Patientinnen und Patienten nachzugeben. Die Doktoren werden pro medizinische Leistung bezahlt, egal ob sie im konkreten Fall wirkt oder ihr Nutzen nicht so klar ist – je mehr, desto lukrativer. Die Verlockung einer Mengenausweitung ist nicht klein, wie der Gesundheitsökonom Heinz Locher bestätigt, und der Patient muss über die Franchise hinaus ja nichts bezahlen. Gemäss Experten der Krankenkasse CSS wird sogar 10 bis 15 Prozent zu viel abgerechnet. Prüfen sie nach, merken sie bisweilen, dass ein Tag gar nicht so lange sein kann, dass alle angeblich erbrachten Leistungen darin Platz hätten.

Dass Ärzte des Geldes wegen unnötige Verordnungen schreiben, will die FMH-Präsidentin Yvonne Gilli nicht gelten lassen: «Sie studieren Medizin aus wissenschaftlichem Interesse und weil sie Menschen helfen wollen.» Doch das Problem geht – wegen der Anreize – tiefer, wie das Beispiel der eingangs beschriebenen Frau mit Rückenbeschwerden zeigt: «Um jemandem klarzumachen, dass weder ein zusätzliches MRI noch weitere Medikamente etwas bringen, muss man Zeit für Überzeugungsarbeit haben», sagt der Rheumatologe. Für solche Gespräche sieht der bisherige Ärztetarif für ambulante Behandlungen (Tarmed) aber nur wenig Zeit vor; man kann in der Regel nicht mehr als zwanzig Minuten pro Konsultation verrechnen. Im Vorteil bei der Vergütung sind die technischen und invasiven Massnahmen. Das Nachsehen haben die weniger gut bezahlten Haus- und Kinderärzte sowie Psychiater.

Das Problem haben längst auch die Ärzte erkannt, sie pochen auf einen neuen Tarif, der beim Bundesrat zur Genehmigung liegt. «Dieser würde die Fehlanreize durch sachgerechte und wirtschaftliche Tarife endlich beheben», gibt sich die FMH-Präsidentin Gilli überzeugt. Insbesondere die Hausarztmedizin würde gestärkt. Andere sind da skeptischer. Der Gesundheitsexperte Felix Schneuwly vom Vergleichsdienst Comparis steht dem neuen Tarif zwar grundsätzlich positiv gegenüber, doch er sagt: Die Ärzte hätten bisher die Kraft nicht aufgebracht, die vielen Grundversorger besserzustellen, da dies auf Kosten der Grossverdiener bei den Spezialisten ginge.

Kein Wunder, sind sich die Ärzte untereinander uneinig. Erst kürzlich gaben die Radiologen zu reden, deren abgerechnete ambulante Leistungen gemäss Bundesamt für Statistik in sieben Jahren um mehr als 60 Prozent zunahmen. Sie gehören heute zu den Topverdienern, auch weil sie dank neuer Technologie viel mehr Fälle untersuchen können, als der Tarif ursprünglich vorsah. Beim neuen Tarif würden sie zu den Verlierern gehören.

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3. Die Folge: Überversorgung

Beinahe grenzenlose Ansprüche der Patienten plus eine mengenbasierte Entlöhnung, die invasive Fachbereiche bevorteilt: Das Resultat ist ein Zuviel, das das Schweizer Gesundheitswesen zu einem der teuersten der Welt macht. Wir haben zu viele Spitäler, ein überdurchschnittliches Wachstum bei der Zahl der Spezialärzte (plus 23 Prozent in sieben Jahren), zu viele Operationen, die, gemessen an Vergleichswerten, unnötig erscheinen – im orthopädischen Bereich etwa. «Da zeigt sich nicht selten eine klare Überversorgung», sagt Susanne Gedamke von der Schweizerischen Patientenorganisation.

So wurden laut OECD 2020 in der Schweiz mehr künstliche Knie- und Hüftgelenke eingesetzt als in jedem anderen europäischen Land. Dass Schweizer an einer besonders schlimmen Gelenkschwäche leiden würden, ist nicht bekannt. Vielmehr hatte damals rund ein Viertel der Bevölkerung eine Spitalzusatzversicherung, was gemäss Studien den einen oder anderen Orthopäden dazu verleitet, im Zweifelsfall den gut bezahlten Eingriff einer konservativen Behandlung vorzuziehen. Manchmal schafft eben auch das Angebot seine Nachfrage.

Die Schweiz hat am meisten Knie- und Hüftoperationen

Eingriffe pro 100 000 Einwohner
Hüfte 2020
Knie 2020

Von «Überversorgung» will die Ärztepräsidentin Yvonne Gilli aber gar nichts wissen. Sie sieht vielmehr die Unterversorgung – etwa bei den Haus- und Kinderärzten. Diese wirkt in der Tat ebenfalls kostentreibend. Gemäss Schätzungen fehlen mindestens 4000 Grundversorger. Als Gatekeeper, die die allermeisten Fälle ohne aufwendige Untersuchungen lösen können, verhindern sie, dass Patienten sofort in den Notfall rennen oder sich im Doc-Hopping versuchen und einen Rattenschwanz von Rechnungen auslösen.

4. Abnehmspritze statt Antibiotika: Die Pharmaindustrie forscht, wo es einschenkt

Geht es um teure Medikamente, ist der Sündenbock schnell gefunden: die Pharmalobby. Sie verhindere, dass die Medikamentenpreise in der Schweiz gesenkt würden, heisst es immer wieder. Fakt ist: Bei uns kosten Medikamente deutlich mehr als im europäischen Ausland. Aber wir greifen in der Apotheke eben auch viel häufiger zum teureren Original als zum günstigen Generikum, vielleicht mit ein Grund, wieso wir diese Preisunterschiede akzeptieren.

Auch ein Blick auf die Börse zeigt, dass die Pharmabranche sich eher an unseren Wünschen orientiert, als dass sie unser Verhalten bestimmt. Ein Liebling der Anleger derzeit ist Novo Nordisk, eine dänische Firma, die mit einer neuen Abnehmspritze bei Patienten für Furore sorgt – früher hätte man eine solche eher als Lifestyle-Produkt denn als Medikament betrachtet. Doch die Pharmaindustrie forscht, wo der erwartete Gewinn am höchsten ist, und im Zeitalter der Gesundheit gehört der Kampf gegen das Übergewicht sicher zu den lukrativsten Gebieten.

Gleichzeitig florieren neue Immuntherapien und die personalisierte Medizin in der Krebsbehandlung. Die Medikamente sind extrem teuer und müssen zum Teil lebenslang eingenommen werden, doch sie bedeuten einen Durchbruch in der Krebsbehandlung. Entsprechend hoch ist die Zahlungsbereitschaft in einer alternden westlichen Gesellschaft.

Unter dem Strich führt diese Logik zu viel Innovation bei spezialisierten Mitteln mit hohem Preispotenzial, nur sind dies nicht zwangsläufig die Medikamente, deren volksgesundheitlicher Nutzen am grössten ist. «Es ist verständlich, dass die Industrie so handelt, doch diese Verzerrung ist ein grosses Problem», sagt der Gesundheitsökonom Heinz Locher. So liegt etwa die Erforschung neuer Antibiotika seit Jahren brach, obwohl immer mehr Resistenzen vorliegen und der Vorrat an wirksamen Arzneimitteln zur Neige geht.

Ein Grund für diese ungleiche Allokation der Mittel: Antibiotika müssen zurückhaltend eingesetzt werden. Und wenn sie verabreicht werden, dann nur über einen kurzen Zeitraum. Das macht sie für Pharmaunternehmen wenig lukrativ.

5. Nicht in meinem Hinterhof: Die Ohnmacht der Politik

Die Spitallisten: Kein Wort illustriert so eindrücklich, wie übersteigerte Ansprüche jede ökonomische Vernunft aushebeln – während die Politik kapituliert. «Es gibt kein Land auf der Welt, in dem das nächstgelegene Spitalbett so nahe liegt», sagte der ehemalige FDP-Ständerat und Gesundheitspolitiker Felix Gutzwiller unlängst im «Tages-Anzeiger». Im Schnitt sind es nur 4,5 Kilometer. «Diese Anspruchshaltung, dass das nächste Krankenhaus höchstens 10 Minuten entfernt sein darf, ist falsch und teuer», sagt auch Heinz Locher

Doch wehe dem Politiker, der mit dem Gedanken spielt, diesen Weg des Patienten auf vielleicht 45 Minuten zu erhöhen. Als der damalige Neuenburger Gesundheitsdirektor 2015 das Akutspital von La Chaux-de-Fonds schliessen wollte, wurde er ausgebuht. Kurz darauf erlitt der Plan auch an der Urne Schiffbruch. Kein Wunder, dass die wenigsten Politiker und Politikerinnen in den Kantonen den Mut haben, der Bevölkerung eine Spitalschliessung vorzuschlagen.

Sparen, aber nicht in meinem Hinterhof: Auch auf nationaler Ebene ist der Kampf gegen die Überversorgung im Gesundheitsbereich unpopulär. Damit der Kostenschmerz der Wähler nicht unerträglich wird, verlässt man sich auf die steigenden Prämienverbilligungen für die tieferen Einkommen – an gewissen Orten profitieren über 30 Prozent der Einwohner: «Niemand im Parlament hat ein Interesse, gegen die eigene Klientel vorzugehen, stattdessen verlangt man stets Reformen von den anderen», sagt der Mitte-Präsident Gerhard Pfister, der sich gerne als Tabubrecher sieht und neuerdings Arztsaläre mit Bankerlöhnen vergleicht.

Das Resultat dieser Hilflosigkeit sind Initiativen, die das Problem nicht an der Wurzel anpacken, sondern lediglich noch mehr Geld umverteilen oder Druck aufbauen. Während die Prämieninitiative der SP fordert, dass kein Haushalt mehr als 10 Prozent des Einkommens für die Krankenkassenprämien aufwenden muss, verlangt Pfisters Mitte-Partei mit der Kostenbremse-Initiative, dass ab einem gewissen Kostenwachstum Massnahmen ergriffen werden. Welche? Das lassen die Initianten bewusst offen. Man könnte ja jemanden verärgern.

6. Mehr Realitätssinn, weniger Gesundheitswahn

Rund 85 Prozent der Bevölkerung schätzen heute ihren allgemeinen Gesundheitszustand als gut bis sehr gut ein, das subjektive körperliche Wohlbefinden ist damit höher als im Rest Europas. Dennoch verursachen wir immer mehr Gesundheitskosten. Natürlich ist einer der wichtigsten Faktoren, dass die zahlreichen Babyboomer in die Jahre kommen, doch die Ansprüche steigen generell, wie wir gesehen haben, auch bei gesunden Jungen.

Die Entwicklung ist nur scheinbar paradox. Da wir heute mehr Zeit und Geld haben, um den Körper zu pflegen und der Gesundheit Sorge zu tragen, ist auch unser Anspruch an sie gestiegen. Er führt zu einer genauen Beobachtung und Überwachung des Körpers und seiner Funktionen. Dank zahlreichen Apps werden die leisesten Symptome wahrgenommen und aufgezeichnet, vom Schlafrhythmus bis zum Herzschlag.

Eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die einem neuen Selbstverständnis geschuldet ist: Um die Jahrtausendwende herum hat sich der Begriff «Optimierung» vom technisch-wirtschaftlichen Gebiet auf andere gesellschaftliche Bereiche ausgedehnt. Plötzlich galt es, alles zu verbessern, vorab das eigene Ich. Inzwischen haben wir auch den eigenen Körper ins Visier genommen. «Er wird zum Projekt, das vermessen, gestaltet, kontrolliert und verbessert wird», analysiert die Soziologin Anja Röcke in ihrer kürzlich publizierten Abhandlung «Soziologie der Selbstoptimierung».

Für die Gesundheitskosten verheisst das nichts Gutes. «Es fehlen die Anreize für mehr Effizienz und Qualität statt nur mehr Menge. In keiner anderen Branche ist das so», sagt Felix Schneuwly. Bei der Entlöhnung der Leistungserbringer stärker auf die Qualität zu achten, würde schon viel bringen, meint er. Und er spricht Instrumente an wie das Belohnen von Ärztenetzwerken, die dank verbindlichen Qualitätsstandards tiefere Kosten haben, andere fordern die überregionale Planung bei den Spitälern und da mehr Transparenz bei der Qualität – es gibt ja eine Menge Ideen für Reformen.

Alle sind sie bisher an den Eigeninteressen der unterschiedlichen Akteure gescheitert, die mit unseren Ansprüchen gutes Geld verdienen. Ein fünftes MRI? Klar, wenn Sie das gerne hätten! Erst wenn der Arzt Nein sagt und die junge Frau mit den diffusen Rückenbeschwerden dies akzeptiert oder gar nicht erst weitere sinnlose Untersuchungen verlangt, wird sich etwas ändern. Lebensqualität statt Optimierungswahn: Das ist die Richtschnur.

Mitarbeit: Nicole Althaus

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»