Die Cannes-Jury bewahrt einen kühlen Kopf: «Anatomie d’une chute» und «The Zone of Interest» sind Gewinnerfilme fernab von Modethemen und Routinearbeiten

Die vom schwedischen Regisseur Ruben Östlund präsidierten Preisrichter haben eine in ästhetischen Belangen erfreuliche Offenheit bewiesen.

Patrick Straumann, Cannes 4 min
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Justine Triet ist nach Jane Campion und Julia Ducourneau erst die dritte Regisseurin, die in Cannes mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde.

Justine Triet ist nach Jane Campion und Julia Ducourneau erst die dritte Regisseurin, die in Cannes mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde.

Imago / Gao Jing

Urteilt man nach den skurrilen Szenen, die sich bisweilen auf der Croisette abspielen – man kann mit Abendkleid und Schleppe bekleidete Pudel kreuzen –, macht sich am Ende des Filmfestivals von Cannes ein Gefühl von Unwirklichkeit breit, dem man sich kaum entziehen kann. Erstaunlicherweise gelang es der Jury dennoch, einen kühlen Kopf zu bewahren. Die Preise, die am Samstagabend verliehen wurden, gaben insgesamt jedenfalls ein ausgewogenes Bild des diesjährigen Festivalangebots.

Mit Justine Triets «Anatomie d’une chute» ging die Goldene Palme an ein Justizdrama, das dank einem bemerkenswerten Drehbuch und einer grossartigen, zwischen allen Gefühlslagen changierenden Hauptdarstellerin in die Tiefen eines Beziehungsdramas vorstossen kann. Triet wurde mithin – nach Jane Campion und Julia Ducourneau – zur dritten Regisseurin, die in Cannes mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde.

Der Film dreht sich um eine Schriftstellerin (Sandra Hüller), die angeklagt wird, den tödlichen Fall ihres Mannes vorsätzlich herbeigeführt zu haben. Ist es die monotone Existenz in der Isolation der französischen Alpen, die das Paar in eine Sackgasse geführt hat? Weder die Rekonstruktionen noch die Analyse einer unverhofft im Gerichtssaal aufgetauchten Tonaufnahme können die Frage, ob hier Mord oder Suizid vorliegt, definitiv klären. Umso gebannter folgt man dem fragmentarischen Rückblick auf den Schiffbruch einer Ehe – und übernimmt fasziniert die Wahrnehmung eines zehnjährigen Kindes, das den Prozess seiner Mutter mit fiebriger Aufmerksamkeit mitverfolgt.

Grandiose Martin-Amis-Verfilmung

Mit dem Regiepreis, der an die im späten 19. Jahrhundert situierte, etwas klassisch anmutende Gourmet- und Paargeschichte «La passion de Dodin Bouffant» (mit Benoît Magimel und Juliette Binoche) des Franko-Vietnamesen Tran Ahn Hung vergeben wurde, kann der französische Film, der vier Vertreter in den Wettbewerb geschickt hatte, insgesamt eine gute Bilanz vorweisen. Filmisch relevanter sind jedoch die Produktionen, die mit den beiden anderen Hauptpreisen ausgezeichnet wurden.

Jonathan Glazer, der vor neun Jahren mit «Under the Skin» eine magnetische Science-Fiction-Geschichte vorlegte, hat mit «The Zone of Interest» den Grossen Preis gewonnen. Die Adaptation des gleichnamigen Romans von Martin Amis verfolgt den Alltag der Familie des Kommandanten von Auschwitz, die sich in einer Bauhausvilla im Schatten der Lagerbaracken eingerichtet hat. Wie tauglich auch immer hier der Begriff der «Banalität des Bösen» ist: Glazers starrer Kamera und der monochromen Partitur der Komponistin Mica Levi gelingt es, die Normalität des Inhumanen stets aus der richtigen Distanz einzufangen.

Den Jurypreis, ebenfalls hoch verdient, konnte der Veteran Aki Kaurismäki für sein «Kuolleet Lehdet» («Les feuilles mortes») entgegennehmen. Wer mit den melancholischen Atmosphären des Finnen vertraut ist, wird hier ein bekanntes Territorium vorfinden. Die Handlung dreht sich wie stets um prekäre Arbeitsverhältnisse und illustriert die drohende innere Verwahrlosung der Figuren: Nichts ist ungesehen, und dennoch ist es dem Filmemacher gelungen, dem Publikum eine taufrische und zeitlos elegante Liebesgeschichte zu präsentieren.

Der Drehbuchpreis wurde «Monster» des Japaners Hirokazu Kore-Eda verliehen, der vor fünf Jahren mit «Shoplifters» bereits den Hauptpreis hatte davontragen können, während der «Prix d’interprétation masculine» an den Hauptdarsteller von Wenders’ «Perfekt Days» ging. Auch hier wird die Auszeichnung kaum auf Einwände stossen: Koji Yakusho verkörpert einen Mann, der in Tokyo die öffentlichen Toiletten reinigt und dessen Alltag dank dem Besuch einer Nichte eine unverhoffte Bereicherung erfährt. Der Schauspieler vollbringt das kleine Wunderwerk, mit einem nahezu dialogfreien Acting ein präzises Porträt einer «unsichtbaren» Existenz zu zeichnen.

Als beste weibliche Darstellerin wurde schliesslich die Türkin Merve Dizdar für ihre hypnotische Präsenz in Nuri Bilge Ceylans zweihundert Filmminuten dauerndem Provinzdrama «Les herbes sèches» prämiert. Ihr Part kommt erst im letzten Drittel des Films zum Tragen, allerdings gelingt es der Schauspielerin, das Drehbuch bereits mit ihrer ersten Erscheinung unter Spannung zu setzen.

Italiener gingen leer aus

Generell hat die vom schwedischen Regisseur Ruben Östlund präsidierte Jury eine sichere Hand bewiesen. Man kann bedauern, dass der italienische Film, obschon mit Marco Bellocchio, Nanni Moretti und Alice Rohrwacher prominent vertreten, dieses Jahr leer ausgegangen ist. Auch die Tunesierin Kaouther Ben Hania, die mit «Les filles d’Olfa» eine konzeptionell bestechende und hochpolitische Familientragödie vorlegen konnte, hätte es zweifellos verdient, auf die Bühne gerufen zu werden.

Mit «Anatomie d’une chute» und «The Zone of Interest» sind jedoch zwei der stringentesten Inszenierungen des diesjährigen Wettbewerbs prämiert worden, die hinsichtlich ihrer Mach- und Tonart überdies kaum unterschiedlicher sein könnten. Mit ihrem Augenmerk auf die Ausdrucksmöglichkeiten der Filme – und ihrem manifesten Desinteresse an den Modethemen und den Routinearbeiten – haben die diesjährigen Juroren in ästhetischen Belangen eine erfreuliche Offenheit gezeigt.